Hemisphären

Jeder Mensch ist nur ein halber Engel,
mit halbem Flügel ein halber Krüppel.
Ein Leben mit gebeugtem Rücken,
die Last der Leere drückt so sehr.

Ist er da und man sieht ihn nicht,
oder sucht man vergebens, weil man eh blind ist?
Ich weiß es nicht, doch fliegen will ich,
stell‘ dich zu mir, versteck‘ dich nicht.

Dein Flügel auf der einen Seite,
meinen gegenüber breite ich aus.
Gib mir die Hand, halt‘ dich fest,
Mut zum Springen, Mut zum Fallen.

Keine Angst, sag‘ ich zu mir!

 

Scheuwegklapper

Die eigene Geschichte verwehrt die Gegenwart,
Die Ereignisse der Vergangenheit leiten die Sicht,
Meine Stimme ruft „Leben“!
Deine auch, aber wir verstehen uns nicht.
Man ist nicht der, der man ist,
Erst der Mut zum Werden führt ins Licht.

Conservare

Die Liebe ist wie ein Spenderherz, das zu erhalten einen mit überschäumendem Glücksgefühl erfüllt, das zu behalten es jedoch Mittel bedarf, die die Abstoßungsreaktionen des Empfängerorganismus unterdrücken. Alles, was nicht aus uns stammt, ist uns fremd und nur scheinbar willkommen, sogar die Liebe. Alles Fremde muss man am Leben erhalten, wenn man es behalten will. Und wenn das Fremde stirbt? Wenn das fremde „Herz“, die Liebe vom Ich verstoßen wird, was stirbt dann in einem? Oder stirbt man selbst, so wie wenn das echte Herz stehen geblieben wäre? Und was beginnt danach? Ein neues Leben? Oder ein Leben ohne Herz? Oder ist da wieder Platz? Man muss viel tun, um Fremdes, auch wenn es gut ist, in sich hineinzulassen, in sich aufzunehmen und zu behalten. Man muss sehr viel tun.

Oculi mundi

Mit wie vielen Augen blickt man auf die Welt?
Wie viele Seelen suchen sie zu erfassen?
Die Augen des Kindes, des Erwachsenen,
Des Frohen und Zweifelnden,
Des Liebenden und Leidenden.
Alle wollen sehen, alle ist man selbst,
Alle wollen hinaus, alle gleichzeitig,
Wachsen durch mich nach außen!
Meine geliebte Sehnsucht, meine Augen!