Am seidenen Faden

Vor einigen Jahren in einem Frankreichurlaub haben wir beobachtet, wie sich ein Mauersegler an einer Hauswand an Stromleitungen verfangen hat. Der eine Flügel in den Kabeln verheddert, der andere flach an der Außenmauer herunterhängend blickte der kleine sonst so schnelle und wendige Vogel verwirrt und wie gelähmt mit hastigen Kopfbewegungen umher. Passanten beobachteten die verzweifelten und offensichtlich schmerzhaften Bemühungen des Vogels, sich immer wieder ruckartig aus der Gefangenschaft zu befreien versuchen. Wir standen auf der anderen Straßenseite überflutet von Mitgefühl, ich mit einem Kloß im Hals, meine Frau mit Tränen in den Augen und sinnierten still über unsere Hilflosigkeit, für den Segler etwas tun zu können. Wenn ich jetzt zurückdenke, ging es uns wohl gar nicht um den individuellen Schmerz des kleinen Vogels, sondern vielmehr darum, wie sehr das Sinnbild der Freiheit und Geschmeidigkeit der Lüfte einem Zufall oder einer zu wagemutigen Annäherung an die vermutete, doch unbekannte Beschränkung seines Freiraums, oder eben den Folgen einer Unachtsamkeit, einer Selbstüberschätzung ausgeliefert war.

Wenn ich den Vogel durch Menschen und die Gefahr der Mauer sowie der Kabel durch unvorhersehbare Wendungen und Verzweigungen des Schicksals ersetzte, dann … ich frage mich, darf man denn überhaupt träumen? Darf man auch mal unbedarft durch das Leben schreiten? Darf man mit geschlossenen Augen das Auto durch die nächtliche Landschaft lenken? Darf man sich nach hinten fallen lassen? Darf man die Kontrolle abgeben, um schwerelos zu sein? Darf man …?

Ja, denn es ist die Pflicht des Lebens Neues zu erleben, sich zu erfahren, die Gezeiten der Gefühle auszuloten. Auch wenn man glaubt aus dem Spinnennetz der Verirrungen nicht mehr zu entkommen, muss man es tun.

Wir haben unsere Blicke abgewendet, konnten die Zuckungen des Vogels nicht mehr ertragen, und gingen einige Schritte weiter. Aber dann haben wir doch zurückgeblickt, denn wir wollten sehen. Und wir haben gesehen! Der Vogel war nicht mehr da, hat sich befreit, hat nicht aufgegeben, seine Flügel durchschnitten die Luft wieder über unseren Köpfen. Er war wieder frei, mauerseglerfrei. Wir haben vor Freude geschluchzt und fühlten uns kurz auch frei, so gut es Menschen halt können.

Beziehungs42

Neulich sagte eine junge Frau zu mir, sie sei kein komplizierter Mensch, man müsse sie nur „lesen“ können. Welch eine Weisheit und paradoxe Wahrheit! Ich habe nur leider die Schwierigkeit, dass ich nicht schnell genug lesen kann, bevor sich der Text ändert.